In dem kleinen Weiler der Natisone-Täler treffen wir Antonia Massera, lebendes Gedächtnis des Ortes, und Plinio Benedetti, Begründer des buddhistischen Zentrums Cian Ciub Ciö Ling.
Nicht weit von der ehemaligen Grenze mit Slowenien lehnen sich an den Berghang die wenigen Häuser von Polava. Seit einigen Jahren lebt hier eine kleine buddhistische Mönchengemeinschaft.
Mein erstes kurzes Treffen mit ihnen ereignete sich vor einiger Zeit in Cepletischis: sie sassen in der Sonne am Strassenrand und ich fand den Mut, zu halten und sie zu fragen, warum sie ausgerechnet nach Polava gekommen waren. “Es war das Karma – antwortete mir der Älteste von ihnen – siehst du die da?” und er zeigte dabei auf dürre Blätter auf dem Boden. “So bin ich, ein Blatt vom Wind verweht”.
Während ich in Serpentinen von Savona nach Cepletischis und Polava hinauffahre, verwandeln sich die Regentropfen auf der Windschutzscheibe in den ersten Schnee, der die braungraue Herbstlandschaft bedeckt.
In Polava angekommen, bin ich zuerst mit Antonia Massera – Tonina Loskina genannt – verabredet, einer entschlossenen Frau hinter ihrem zarten Aussehen.
Sie ist die Seele und das lebende Gedächtnis von Polava und die einzige der heutigen Einwohner, die von hier gebürtig ist. Wir setzen uns an der Wärme des spolert, des typische friulanischen Holzherds. Die Küche duftet von hausgebackenen Keksen.
“Als ich klein war, wohnten in den 9 Häusern von Polava 76 Personen. Davon waren 26 Kinder. Es wimmelte regelrecht vom Leben hier – beginnt Antonia – Das ist mein Geburtshaus. Das Leben hier ist schön, denn es ist ruhig; der Nachteil ist die Zeit- und Geldverschwendung, um Cividale (20 km) oder Udine (37 km) zu erreichen, wenn es nötig ist. Aber die Lebensqualität hier ist gut und ich kann nicht verstehen, warum die Leute hier nicht leben wollen. 30 Jahre lang habe ich in Rom gewohnt, da habe ich Jura studiert, und am Ende bin ich regelrecht davon geflüchtet, das Leben dort war so anstrengend, dass ich dauernd krank war. Seitdem ich wieder hier bin, und es ist schon 15 Jahre her, ist meine Gesundheit wieder perfekt. Ich bin wieder gekommen, um meine Mutter zu pflegen, weil sie allein geblieben war.”
Wie war das Konfrontiertwerden mit deiner Gemeinschaft bei der Rückkehr? “Ich habe versucht, meine Kenntnisse im Dienst der Einheimischen zu stellen; ich habe mich engagiert in Sachen der Kultur, wie zum Beispiel die Gründung eines Museums und einer Bibliothek in der alten Käserei von Cepletischis, aber leider bin ich auf ein grosses Desinteresse gestossen. Die Leute hier denken, es wird hier nie was geben, so resignieren sie und tun nichts. Ja, ich bin verbittert und enttäuscht. Hier gibt es viele Möglichkeiten, aber die jungen Leute tun gar nichts. Schau, ich bin fest überzeugt, dass viele Probleme aus der schlechten Verwaltung entstehen, die hat nach dem Erdbeben von 1976 wirklich viele Chancen verschwendet hat. Immer noch wäre es möglich, so viel zu realisieren, und die Gemeinden der Täler hätten die Kraft dazu, wenn sie alle gemeinsam arbeiten würden. Es stimmt nicht, dass es kein Geld gibt, man muss nur einen glaubwürdiges Projekt vorschlagen.
Hier haben die Leute sich immer viel anstrengen müssen, das Leben war hart: bis zum Ersten Weltkrieg fuhr Antonias Grossvater mit einem Pferdewagen nach Ungarn, um Stoff zu verkaufen, und er hatte auch einen Helfer aus Polava.
Aber Antonias Bezugsperson war ihr Vater Dante. Er hatte keine Angst, seine Meinung frei zu äussern und deswegen wurde er in den Fünfziger Jahren – den Jahren des kalten Krieges und der Geheimorganisation “Gladio” – von der Polizei ständig kontrolliert: der Verdacht war, er sei ein Tito-Anhänger und deshalb ein Feind Italiens. Die Carabinieri kamen ins Haus und suchten nach Waffen. “Aber mein Vater war ein friedlicher Mann bis in den Knochenmark – präzisiert Antonia – und er hätte nie einen Waffen berührt. Von meinem Vater erinnere ich noch, wie er uns Geschichten und Märchen erzählte, als wir Kinder so langweilige Arbeiten verrichteten, wie Kastanienschälen für die Schweine. Bei uns gab es eine solche Festigkeit in der Familie, die ich selbst für meine Kinder hätte gestalten wollen, war aber nicht imstande dazu.
Dante Massera war auch sehr grosszügig. “Uns ging es ziemlich gut, wir hatten kein Bargeld aber genug zu essen – fährt Antonia fort – aber hier im Dorf gab es einige wirklich sehr arme Familien, die hatten nicht einmal eine Henne. Unsere Nachbarn zum Beispiel waren zu neunt, die verwitwete Mutter und acht Kinder. Ich erinnere mich, sie kam zu uns und bat, ihr ein Kilo Käse zu leihen…. und mein Vater – er sass dort am Tisch, wo du jetzt bist, das sehe ich noch ganz klar vor meinen Augen – sagte zu meiner Mutter: Gib ihr doch ein Kilo Käse und auch ein Kilo Speck dazu!”
Antonias Meinung nach ist es ein Mythos, dass damals die Dorfleute im Einklang lebten. Nein, sie stritten auch um den Besitz von einem halben Zentimeter Boden. Die Solidarität entstand bloß aus der Not, jeder brauchte den anderen und half dem anderen.
Heute versucht man, in Polava die alten Bräuche im Leben zu halten, wie zum Beispiel das Rosinza-Fest am 15. August und die Bittprozession am Markus-Tag, dem 25. April. “An diesem Tag machen wir ein grosses Fest, wir bilden einen Blütenteppich, stellen einen Tisch auf die Strasse mit Speisen und Getränken, der Priester segnet das Salz, das ist für die Haustiere, und das Wasser, das ist für die Felder.”
Wie ist euer Verhältnis mit den Buddhisten in diesen Feiertagen? “Sie sind still, ruhig, nett, höflich, immer hilfsbereit. Zum Markus-Tag helfen sie uns aktiv, sie pflücken die Blumen, backen Kuchen für das Fest. An der Wand eines ihrer Häuser war ein altes Holzkruzifix, das Symbol unseres Dorfes, sie haben es restaurieren lassen und es in eine schöne Nische gestellt. Eines Abends – schon vor vielen Jahren – hatten wir den Meister zu uns eingeladen. Er war eine grosse Persönlichkeit. Wir sprachen über Philosophie und er meinte, er könne uns nicht sagen, welchen Weg man im Leben wählen soll, denn jeder von uns weiss allein, was das Gute und was das Übel ist. Es beeindruckte mich der Unterschied zu unseren Priestern, die sich immer wähnen, die Autorität zu haben, um dir zu sagen, wie du dich benehmen sollst.”
Antonia begleitet mich dann zur zweiten Seele Polavas, zu Plinio Benedetti, Begründer und Direktor des buddhistischen Zentrums Cian Ciub Ciö Ling, d.h. “Erleuchtungsort im Dharma”.
Er arbeitet gerade an den Steinstufen, die zum Stupa führen. Das pagodenähnliche Tempelchen steht auf einem grossen Felsenbrocken hinter dem Zentrum. Lange Reihen von bunten Gebetsfahnen rahmen es ein. Wenn man hinaufsteigt, scheint es, dass der ungewöhnliche Umriss des Stupa sich auf Polavas Dächer anlehnt wie auf einen familiären Hintergrund.
Am 10. Dezember 20056 wird der Dalai Lama in Udine sein und Plinio ist sehr beschäftigt mit den Besuchsvorbereitungen; dessen ungeachtet findet er gerne ein paar Stunden seiner kostbaren Zeit für mich. Er ist 52, sieht aber jünger aus und hat eine sehr freundliche und offene Art; wir gehen in sein Arbeitszimmer, Regale voll von Büchern ragen bis zur Decke.
Meine erste Frage ist natürlich: warum gerade in Polava? “Es war vor 21 Jahren – antwortet Plinio – als ich zum ersten Mal meinen Lehrer/Meister traf. Er hiess Ghesce Yesce Tobden, ein Asket, ein grosses, leuchtendes Beispiel. Er sagte mir, ich würde ein Haus in den Bergen finden, um auf meiner spirituellen Suche immer weiter zu kommen. Tatsächlich hatte ich gerade ein Haus gekauft, und zwar in Ciubiz, im Judrio-Tal, nicht sehr weit von hier, und hatte dabei alle meine Ersparnisse und auch mehr investiert. Aber der Meister liess mir wissen, dass es nicht der richtigen Ort war, und dass ich einen anderen hätte suchen sollen. Er hatte einmal von der Wallfahrtskirche in Castelmonte die vollkommene dreieckige Form des Matajur bewundert. Dieser Berg hatte ihn fasziniert und als wir einmal zusammen auf seinen Gipfel stiegen, sagte er mir, an seinen Füssen würden wir den richtigen Platz finden, was sich tatsächlich wenige Tage ereignete. Es war im Jahr 1990. Hier in Polava kaufte ich zwei Hausruinen. Du siehst, wie wir sie in diesen 16 Jahren verwandelt haben!
Die Häuser wieder aufzubauen war eine regelrechte spirituelle Übung, es war ein Versuch, mich für die Liebenswürdigkeit des Meisters zu bedanken und die kostbare Gabe seiner Lehren zu erwidern. Für mich ist jede manuelle Arbeit hier ein tiefer Meditationsakt, der die Freude in der Arbeit bestätigt. Ich glaube in die Regel von “Ora et labora” – Arbeite und bete: sechs Stunden Schlaf, sechs Stunden Gebet, sechs Stunden Arbeit, sechs Stunden Lernen”.
Heute zählt das Zentrum Cian Ciub Ciö Ling ungefähr 60 Teilnehmer. Wenn Plinio nicht mit seinem Beruf beschäftigt ist – er ist Zahntechniker in Gonars – verbringt er jede freie Minute in Polava mit seiner Frau. Sie teilen das Haus mit den Mönchen. “Ja, wir leben zusammen – sagt Plinio – wir sind eine Familie und gehören der gleichen Mönchengemeinschaft. Seit 2000 wohnt hier der ghesce (Meister) Lobsang Pendh, und in diesen Tagen sind hier ein tantrischer Mönch, der das Mandala für die Ankunft des Dalai Lama vorbereitet, und ein tibetischer Maler.
Plinio begleitet mich in das andere Haus, ein altes Steinhaus mit einem Holzbalkon, mit Geschmack und Respekt im Stil der Natisone-Täler restauriert. Im Inneren erwartet mich aber eine Überraschung: es ist ein wahrer buddhistischer Tempel. Auch dieses Haus stellt also die zwei Seelen von Polava dar. Auf dem Fussboden hockt der tibetische Maler und arbeitet an einem heiligen Bild, und der Mönch neben ihm stellt ein Mandala mit buntem Sand her.
Als ich hinausgehe, dämmert es schon, und der Schnee fällt weiter, wenn auch mit nicht so viel Kraft wie zuvor. Der Himmel ist schon dunkel, das Licht ist irreal, der Schnee liegt auf den dunkelgrünen Tannen und auf den kahlen Ästen der Buchen. Polavas Bäume haben weisse Blüten bekommen.
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