Der Waldlehrer

Auf der Suche nach Spuren und Bäumen auf dem Mia-Berg, m 1231, begleitet von Giovanni Coren aus Ponteacco, tiefer Kenner jedes Bergwinkels.

Nicht oft hat man das Glück, eine Wanderung zu machen mit Giovanni Coren, Naturwanderführer und leidenschaftlicher Sammler von Geschichten und Traditionen der Natisone-Täler. Jemand hat ihn “den Waldlehrer” genannt. Er macht diese Arbeit aus purer Leidenschaft, und vor allem arbeitet er gern mit Grundschulkindern: er selbst sagt, er habe eine glückliche Kindheit in der Natur gehabt und spüre jetzt den Wunsch, ja sogar den moralischen Drang, dieses Wissen den neuen Generationen weiterzugeben. Die Gelegenheit bietet sich mit dem ersten Kurs für Naturwanderführer, den der sehr engagierte Förderverein “Nediske Doline-Valli del Natisone” organisiert hat. Die Teilnehmer sind fast alle junge Studenten der Natisone-Täler, die vom Frühling bis Herbst die Wanderungen zum Mia-Berg und seinen alten Hirtensiedlungen führen werden.

Fünfzehn Leute treffen sich an einem grauen Märzmorgen in Stupizza. Giovanni wartet schon auf uns: er ist gross und schlank, hat ein lächelndes Gesicht, trägt eine Brille mit einem dünnen Metallrand und hat den sicheren Schritt einer Person, die sein ganzes Leben in der Natur verbracht hat. Seine ersten Wörter sind sehr mitreissend: “Meine lieben Leute, es ist eine schwere Aufgabe, das weiss ich, aber wir sollen versuchen, die Seele dieser Orte zu vermitteln” und er legt sich dabei eine Hand aufs Herz.

Wir machen uns auf den Weg: wir gehen über die neue, elegante Fussgängerbrücke und dann nach rechts, den Fluss entlang. Nach kurzer Zeit zeigt uns ein kaputtes Schild, dass wir die alte Siedlung von Predrobac erreicht haben: es erscheint uns jetzt wie ein Gespensterdorf, eine Häufung von Steinruinen. Es war bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts die Sommersiedlung der Einwohner von den Dörfern namens Loch, Specognis und Cicigolis, kleine Weiler am rechten Natisone-Ufer. Alte und Kinder lebten hier mit Ziegen und Schafen, während die Kühe auf einer höher gelegenen Alm weideten. Hier ist die erste Terrasse, von Bäumen verwachsen. Seit diesem Augenblick – sagt Giovanni – besteht unsere Zeitreise in der Aufgabe, uns diesen Ort vollkommen frei von Unkraut und Sträuchern vorzustellen. Es war damals gepflegt wie ein Garten, mit Obst-,  Walnuss- und Maulbeerbäumen. In den terrassierten Feldern, sorgfältig von Steinen entfernt, wuchsen Kürbisse und exzellente rote Bohnen.

Predrobac

Die Häuserreste zeigen noch Sorgfalt und Genauigkeit im Bauen: gut geschnittene Steinblöcke, verzierte Tür- und Fensterrahmen. Für die Dächer benutzte man die Ziegel der nahen Ziegelbrennerei von Cemur. Das andere Baumaterial war praktisch in unmittelbarer Nähe: Steine, Sand vom Natisone und Kalk aus dem hiesigen Kalkofen. Giovanni lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Reste von einem Gebäude, das das Milchproduktenlager war: sichtbar sind noch zwei Löcher, aus denen eiskalte Luft kommt, und weiter unten eine Öffnung, aus der Quellwasser hinausfloss. Durch diese kluge Konstruktion konnte man Quark, Käse und Milch auch im Sommer frisch aufbewahren. “Die Menschen waren imstande, alle Ressourcen von einer aus Stein gemachten Welt/Umwelt  auszunutzen. Sogar das Schuttfeld von Monte Vogt war eine natürliche Rutschbahn, um das oben gefällte Holz leichter nach unten zu bringen.   

Wir verlassen das Gespensterdorf und schreiten weiter auf den breiten, gestuften Saumpfad. Hier und da blühen Schneeglöckchen und Primeln; an der Bergwand windet sich ein riesiger, bestimmt jahrhundertalter Efeu. So erreichen wir einen breiten Platz mit drei Zugangsstufen. Allein hätten wir ihn gar nicht gemerkt. Giovanni sagt:”Hier stand einmal die Holzbaracke, die sozusagen die “Endstation” war für diejenigen, die von oben die 40 kg schweren Kohlensäcke hinunter transportierten. Versucht, euch ihre Mühe vorzustellen!”

Der Kohlenmeiler

Dann erzählt er uns, wie man einen Kohlenmeiler errichtet, und seine Wörter zaubern vor uns etwas, das keiner von uns je gesehen hat. Dann erzählt Giovanni weiter: “Holzkohle erzeugt man gewöhnlich aus Buchen- oder Hagebucheholz (Hainbuche), aber mit Haselnussholz macht man eine wirklich gute und “saubere” Kohle, die wenig Asche hinterlässt, und deswegen von den reichen Stadtbewohnern sehr gefragt war.”

Sobald Giovanni von Bäumen und Holz spricht, erhellt sich sein Gesicht, es ist klar, dass dieses Thema ihn am meisten begeistert. “Das Haselnussholz ist ein sauberes, geschmackloses Holz, und eignet sich bestens für Besteck, Löffel, Gabeln. Einmal machte man daraus auch kleine Schalen, um den Wein zu kosten. Aus Kornelholz dagegen machte  man die Harkenzähne und das Treibwerk der Mühlräder, das Gestell der Tragkörbe und den Sichelgriff. Aus dem Goldregenholz, das sehr hart ist, machte man die Leitersprossen, die Stuhlbeine, die Holzlaufrollen”.

Giovanni bleibt vor eine grosse Linde wie beseelt stehen: “Schaut, aus dieser Pflanze könnte man eine schöne Leiter machen. Man machte viele Leiter, damals, und zu den verschiedensten Zwecken: um Obst von den Bäumen zu pflücken oder um den Dachboden zu erreichen, wo die Birnen “Spada” bis Weihnachten auf einem Bohnenbett reiften…Aber aus Lindenholz wurden natürlich auch Möbel und Skulpturen gemacht.”

Unterricht im Wald

Während wir langsam das Pradolino-Tal hinaufgehen, bekommt die ganze Baumbevölkerung – die noch ohne Blätter und daher viel schwieriger zu unterscheiden ist – ihre genaue Identität.  Vorbei ziehen Ahorne und Ulmen, Wildkirschbäume, Hainbuchen, Eschen, die seltenen Eiben und die ersten Buchen. Wir sprechen von ihren Bewohnern: der Uhu, der Rotspecht, der Grünspecht. In gleicher Weise werden Spuren und Zeichen auf dem Boden entziffert: Marter und Dachs, Fuchs, Reh und Hirsch waren hier. Auf den Zweigen zeigt Giovanni uns die Nester von dem Schwarzplättchen, dem Buchfink und der Drossel und erzählt uns von ihren Baugeheimnissen. “Dieser Wald ist mein Zuhause – sagt er – ich komme hier seit 40 Jahren!”

Nach der alten habsburgischen Grenzstelle wird der Weg weniger steil und wir kommen zu einer Hirtensommersiedlung, die noch älter als Predrobac ist. Dieses Dorf heisst Pradolino und es bleiben nur noch einige Mauerreste davon übrig.

Fast 4 km gehen wir die Schlucht entlang. Die Flanken der Berge Mia und Vogt sind sehr nah beieinander. Endlich erreichen wir den Pradolino-Pass, unterhalb einer imposanten Steinwand, wo das Abrutschen der Verwerfungslinien zu Tage kommt.

Der Weg geht jetzt steil hinauf in den Wald, wo die Buchen herrschen, aber es gibt auch Nadelbäume wie Tannen und Fichten. “Der Wald ist alt, aber nicht so sehr zu einer kommerziellen Verwendung geeignet, nicht einmal als Brennholz – sagt Giovanni – er wächst zu unregelmässig.”

Das Nest der Haselmaus

Auf einem Strauch finden wir das verlassene Nest von einer Haselmaus, einem kleinen Nagetier mit einem langen Schwanz. Das Nest ist rund, aus sorgfältig zusammengeflochtenen Blättern und Grashalmen, so dass es vollkommen wasserdicht wird. Giovanni sagt: “Schaut, wie fein es ist; tastet, wie weich das Innere ist!”

Plötzlich kommen wir zu einer dichten Aufforstung mit Fichten: wenn wir hinaufschauen, sehen wir nur kranke Pflanzen, gebrochene Äste/Zweige, dürre Stämme. “Diese Katastrophe hat ihre Ursache in der sinnlosen Aufforstung der 60er Jahren: hätte man Eschen, Ahorne, Kirschbäume oder Buchen gepflanzt, wäre es jetzt ein Vermögen wert; die Fichte dagegen passt gar nicht unseren klimatischen Verhältnissen. Damals wurde aber alles in Rom entschlossen, ohne auf die Merkmale der verschiedenen Gebieten zu achten: die Nadelbäume standen hoch im Trend! Die Natur hat uns jetzt bestraft und hat wieder ihre Ordnung hergestellt, was wir Unordnung nennen”.

Wir kommen zur neuen Forststrasse, einer offenen Wunde auf den Bergflanken. Sie erreicht auf der slowenischen Seite die ehemalige Monte Mia-Alm, auf einer Höhe von 970 m.

Im Wald sieht es jetzt noch schlimmer aus, die Baumstämme, die vor dem Strassenbau gefällt wurden, liegen aufeinander gehäuft und es ist schwierig, durchzukommen. “Diese Strasse ist absurd – sagt Giovanni – wozu dient sie eigentlich? Diese Bäume haben keinen kommerziellen Wert! Bis zu den 50er Jahren war das ganze Gipfelgebiet eine einzige Wiese. Eine Wiese, merkt es wohl, keine Weide! Jedes Jahr wurden hier 2000-3000 Zentner von hervorragendem Heu gewonnen, was die Armee für die Pferde und Maultiere der Alpini kaufte. Zur Heuerntezeit gab die Gemeinde den einzelnen Familien eine bestimmte Parzelle je nach Familiengröße. Dann wurde das grosse Almgebäude gebaut, das aber nie im Betrieb genommen wurde. Kurz danach kam die Aufforstung. Vor einiger Zeit wurde ich beauftragt, ein Adlerpaar zu kontrollieren, das ihr Nest hier hatte. Leider verbreitete sich diese Nachricht und als zu viele Leute hier herumschnüffelten, verschwanden die Adler vom Mia-Berg und kamen nie mehr wieder. Dasselbe könnte jetzt mit dem Bär passieren, diese Strasse verspricht ja nichts Gutes. Ja, ich habe oft seine Spuren gesehen, er kommt von Slowenien hierher, aber er bleibt nicht lange hier, er hat andere Ziele. Was ihn anzieht, ist die Wildnis, die sich wiederhergestellt hat, nachdem der Mensch seine traditionellen Beschäftigungen aufgegeben hat. Wenn wir imstande sind, den Wald unversehrt zu erhalten, wird auch der Bär lange Gast bei uns sein.”