Für Riccardo Ruttar, den Chefredakteur der Zeitschrift der slowenischen Minderheit “DOM”, stehen seit 30 Jahren die Natisonetäler im Mittelpunkt seiner Studien und Arbeit. In diesem Gespräch erinnert er sich an die Geschichte seiner Familie und analysiert die gegenwärtige Situation.
Jede Woche lese ich mit besonderem Interesse eine Rubrik von Riccardo, die den Dörfern der Natisone-Täler gewidmet ist. Ich beneide den Kollegen um sein Wissen über die Menschen und das Territorium, und nachdem ich erfahren habe, dass er aus Drenchia an der Grenze zu Slowenien kommt, finde ich den Mut, den Interviewer um ein Interview für meine Serie zu bitten.
Riccardo Ruttar begrüßt mich mit großer Herzlichkeit und freut sich offenbar, einmal “auf der anderen Seite des Recorders” zu sitzen. “Von der Grenze soll ich sprechen?”- sagt er. “Dann erzähle ich dir eine Geschichte von der Zeit, in der es keine verdammte Grenze in den Köpfen gab, die Geschichte meines Großvaters Mateus Ruttar, geboren 1847 in Clabuzzaro / Brieg, einem der vielen Weilern von Drenchia.”
Mateus ist ein Hausierer (guzirovec), und mit seinem österreichisch-ungarischen Pass reist und arbeitet er in ganz Europa. Er verkauft religiöse Bilder, Spiegel, Kämme, Streichhölzer und andere Kleinigkeiten, vor allem in Slowenien, aber auch in der Steiermark, in Mähren, in Polen. In Warschau lernt er Russisch, und ganz Russland öffnet sich ihm. Er reist weit durch dieses Land, bis er 1875 mit zwei anderen Landsleuten in den Kaukasus kommt. Dieses Gebiet gefällt ihm sehr gut, weil es ihn an seine Heimat erinnert. Die drei Freunde kaufen 85 Hektar Land in der Nähe von Wladikawkas und begründen eine Landwirtschaft.
1876 kehrt Mateus nach Drenchia zurück, um seine Verlobte Maria Jurman zu heiraten. Als er wieder nach Russland fährt, reisen mit ihm auch die Verlobten seiner zwei Freunde und andere Verwandte in den Kaukasus, die bereit sind, ein neues Leben anzufangen. So wird ein neues Dorf gegründet, das Italijanski Hutor heißt. Dank des Besuchs zweier slowenischer Reisender in den Jahren 1899 und 1912, die ausführliche Berichte hinterließen, konnte Riccardo die damaligen Ereignisse rekonstruieren und sie zusammen mit außergewöhnlich interessanten Fotos im Internet zur Verfügung stellen( www.finestrasulmondoslavo.it/ ).
Ein wahrer Patriarch
Mateus als wahrer Patriarch hatte 23 Kinder, elf von Maria und nach deren Tod noch zwölf von seiner zweiten Frau Marianna Crisetig aus Iesizza. Einer der letzten ist Edoardo, Riccardos Vater, der 1908 in Wladikawkas geboren wurde. Zwischen 1900 und 1915 befindet sich die kleine slowenische Gemeinschaft auf dem Höhepunkt ihres Wohlstands. Nach der russischen Revolution verlieren jedoch die Ruttar-Geschwister das ganze Hab und Gut, und nach dem Tod von Mateus beschlossen fast alle, nach Italien zurückzukehren, obwohl keiner von ihnen direkte Kenntnis von der Welt hatte, aus der ihre Eltern vor vielen Jahren ausgewandert waren. Viele hatten eine Arbeit, waren verheiratet und hatten Kinder. Und sie bringen aus dem Kaukasus eine Handvoll Erde mit, eingeschlossen in einem Taschentuch, Erde, die man nach russischer Sitte auf ihrem Grab ausbreiten sollte.
“Von allen dort Geborenen sind hier in Italien noch drei Menschen am Leben”, sagt Riccardo.
Seit 1930 lebt also Edoardo in Italien. Zu Kriegsbeginn heiratet er und hat sieben Kinder. Riccardo wurde 1947 in Iesizza geboren. Er verbirgt sein Heimweh nicht: “Ich kannte jede Ecke in Iesizza! Dort erlebt man die Freiheit, weil man sie einatmet. In diese Welt würdest du gerne zurückkehren, auch wenn du weißt, dass es nicht möglich ist. “
Zwei rote Linien
Ich verstehe, dass sich Riccardo mit dem Fall der Grenze heute mehr denn je mit seinem Großvater Mateus geistig verbunden fühlt. Dieser lebte, wie Riccardo selbst sagt, als “die unermessliche slawische Welt nicht von einem eisernen Vorhang abgeschnitten war und verborgen blieb und furchterregend und gefürchtet war“ .
Mir ist klar, dass wir einen sehr sensiblen Punkt berühren, wo das persönliche Leben von Riccardo und das seiner Gemeinschaft eng miteinander verflochten sind. Riccardo fährt fort: “Wenn wir den Leuten nur bewusst machen könnten, was wir zu leiden hatten … Ich glaube, Italien sollte uns zurückgeben, was es uns weggenommen hat! Ich wusste genau, wie sehr die Gesellschaft uns als minderwertig betrachtete.
Ich erzähle dir nur Folgendes: Ich war in der Grundschule und der Lehrer schlug mir auf die Knöchel, weil ich in der Pause mit meinem Bruder Slowenisch gesprochen hatte. Ich sehe immer noch die zwei roten Striemen auf meiner Haut vor mir, und ich höre die Stimme meiner Großmutter, die mir zu Hause sagt, dass wir lernen müssen, den Blick nach unten zu senken. Ich verbrachte meine Jugend weit weg von zu Hause, weil ich in einem Internat studierte. In diesen langen Jahren verlernte ich fast meine Muttersprache, aber bei meiner Rückkehr hatte ich keine Angst mehr, Stellung zu beziehen! “
Riccardo erzählt mir, dass er erst als Erwachsener sein Selbstbewusstsein als Angehöriger der slowenischen Minderheit wiedererlangt hat. Als Volksschullehrer unterrichtete er in den 70er Jahren in den Grenzdörfern Drenchia, Uccea, Fusine und Camporosso.
„Identität wurde systematisch verleugnet, die slowenische Sprache als minderwertig angesehen. Wie kann man da schweigen? Ich wollte dazu beitragen, meinem Volk wieder seine Würde zu geben, im Inneren spürte ich eine Empörung über das Verbrechen, das an einem ganzen Volk verübt wurde. Es schien mir ein System der Vernichtung zu sein. “
Eine lange Diskriminierung
Ruttar studierte Psychopädagogik in Turin und begann 1979 bei SLORI (Slowenisches Forschungsinstitut) zu arbeiten. Eine seiner bedeutendsten Arbeiten ist die Studie “Die Slavia-Absolventen” (Cividale 1999), in der unter anderem überprüft werden sollte, ob das Zugehörigkeitsgefühl zu einer bestimmten ethnolinguistischen Gruppe vorhanden ist oder nicht.
Ich höre seiner Analyse der komplexen Situation zu und finde, dass sie die beste und überzeugendste ist, um die widersprüchliche Beziehung des Benecia-Bewohners zu seiner eigenen Sprache zu verdeutlichen, die für diejenigen, die sie von außen sehen, oft unverständlich erscheint, wie auch die unaufhörliche Kontroverse, die damit einhergeht.
“Die Menschen in den Natisone-Tälern«, sagt Riccardo, »werden seit 150 Jahren diskriminiert, und ihre Rechte werden verletzt. Das historische Gedächtnis, das Zugehörigkeitsgefühl zu einer strukturierten Gemeinschaft wurden ihnen weggenommen, und dies hat die Identität und den Zusammenhalt der Gruppe untergraben.“
Zusätzlich zu den beiden Weltkriegen litt dieses Territorium unter der Gewalt der faschistischen Denationalisierung und in der zweiten Nachkriegszeit unter den Repressalien von Gladio, einer Geheimorganisation der NATO, die bei einer Invasion von Truppen des Warschauer Paktes hinter deren Linien eingesetzt werden sollte. Dazu kommen die Auswanderung und der demographischer Zusammenbruch: die Bevölkerung hat sich in 80 Jahren um zwei Drittel verringert, von 17.500 im Jahr 1921 auf 6.000 heute.
Sich slowenisch zu deklarieren, gewann politische Bedeutung, da Titos territoriale Ansprüche ausgerechnet auf der slowenischen Sprache beruhten.
Eine gewollte Verwirrung
“Aber die Slavia war immer Italien zugewandt , nicht nur in orographischer Hinsicht. Jahrhundertelang war sie der Republik Venedig treu und im Königreich Lombard-Venetien gegen Österreich eingestellt. Auch wenn sie vom Faschismus gedemütigt worden war, sah man man eine mögliche Annexion durch Belgrad als Bedrohung. Es schien besser, sich zu den Italienern zu bekennen, wenn die Anerkennung als Slowenen die Gefahr barg, unter die Souveränität Jugoslawiens zu fallen.
Leider hat das Adjektiv “slowenisch” gerade deshalb eine zweideutige Bedeutung angenommen, weil man absichtlich die Begriffe “Staatsangehörigkeit” /ethnolinguistische Zugehörigkeit und “Staatsbürgerschaft” / Zugehörigkeit zum Staat verwechselt hat. Das führte dazu, dass das Attribut “Slowenisch” als Gegensatz zu „Italienisch“verstanden wurde .
Ein Entweder/Oder also: entweder Slowenisch oder Italienisch. So war der NT-Einwohner objektiv slowenisch und auch italienisch, gezwungen, auf eine der beiden Alternativen zu verzichten: eine schwierige Situation.
“Da aber die Beweise für die Verschiedenartigkeit nicht zu umgehen waren«, so Riccardo weiter, »entstand hier die phantasievolle Suche nach anderen Definitionen, von den generischen und generalisierenden wie »Slawen” zu den partikularistischen und Neologismen wie” Natisonianer “.
Letzen Endes blieb das slowenische Volk der Natisone-Täler eine “namenlose Gemeinschaft” ohne Identität. Die Gewalt und die denationalisierende Arbeit der Behörde haben letztendlich dazu geführt, dass viele “Slowenen” zu ihren eigenen Hauptfeinden wurden, gemäß dem neurotischen Mechanismus, der als “Identifikation mit dem Aggressor ” bezeichnet wird.“
Wenn man nicht in der Lage ist, die eigene wahre Identität als Wert zu erleben, was nimmt man denn an? Die starke und klare Identität der Dominanten, in diesem Fall der Italiener, und man wird fanatischer und gewalttätigerer als der Angreifer selbst.
Die dominierende politische Kraft in der Nachkriegszeit (Die Christlich-Demokratische Partei, Anm.d.Ü.) hat ihrerseits alles Mögliche gemacht, um den Slowenen mit den Kommunisten zu identifizieren. Das Axiom war: Slowene gleich Kommunist gleich Tito-Anhänger gleich Italienfeind gleich Vaterlandverräter, basierend auf dem manichäischen ideologischen Rahmen, in dem Jugoslawien der Inbegriff des Bösen darstellte. “
Kulturelle Erfolge
Wie betrachtet Riccardo Ruttar die Gegenwart und vor allem die Zukunft der NT? „Als Forscher, der die Slavia seit drei Jahrzehnten zum Zentrum seiner Interessen und seiner Leidenschaft gemacht hat, habe ich mich daran gewöhnt, der Realität ins Gesicht zu sehen.
Die Geschichte hat uns auf fatale Weise konditioniert, aber die slowenische Gemeinschaft hat es geschafft, Kräfte in sich zu bilden, die sich des Wertes ihrer eigenen Kultur bewusst sind. Ein Beweis dafür ist das Gesetz 482/99, das die sprachlichen Minderheiten schützt, das Gesetz 38/01, das speziell für Slowenen in Italien gilt, und vor allem die zweisprachige Schule von S. Pietro al Natisone, besucht heute von mehr als der Hälfte der Schüler im Gebiet der Natisone-Täler.